3,75 bei Untappd: Wie wir gute Biere kaputt bewerten
- Holger Dülberg
 - 8. Juli
 - 4 Min. Lesezeit
 
Ein Plädoyer für mehr Fairness, Ehrlichkeit – und ein bisschen mehr Mut auf Untappd.
„Super ausbalanciert, tolle Fruchtigkeit, kein Fehlton. Trink ich gerne wieder!“ – 3,75 Sterne.
Wer regelmäßig auf Untappd unterwegs ist, kennt diese absurde Szene nur zu gut. Da wird ein Bier in höchsten Tönen gelobt, ein kleiner Roman zur Malzkomposition verfasst oder das Hopfenprofil analysiert wie in einer Doktorarbeit – und am Ende stehen da: 3,75 von 5 Sternen.
Das andere Extrem ist nicht weniger seltsam: Nur echte Raritäten oder extreme Biere jenseits der 8 % Alkohol bekommen eine wohl verdiente Bewertung mit über 4 Sternen.
Das ist keine Ausnahme mehr. Es ist Normalität geworden:
🤷 Was läuft hier falsch?

Die stille Abwertung: Ein digitales Ritual
Untappd ist eine der wichtigsten Plattformen für Bierbewertungen weltweit. Millionen Einträge, Sternebewertungen, Tags, Kommentare. Was als spielerischer „Bier-Check-In“ begann, ist heute oft ein Ort der Mikro-Influencer, an dem Trends gesetzt oder und Wahrnehmung geframt wird.
Kurz: Was du da bewertest, hat Wirkung.
Warum das Brauereien schadet
Besonders kleine, handwerklich arbeitende Brauereien sind auf Sichtbarkeit und Reputation angewiesen. In einem gesättigten Markt, wo jeden Monat neue NEIPAs, Pastry Stouts oder Hopfenbomben erscheinen, ist die Wahrnehmung entscheidend.
Eine IPA-Serie mit 4,3er-Schnitt verkauft sich oft sofort.
Dasselbe Bier mit 3,7 verstaubt im Regal – obwohl es womöglich stilistisch sauberer, komplexer und trinkfreudiger ist.
Untappd ist heute ein Gatekeeper. Händler, Bars und Bierfans sortieren anhand der Sterne vor. Was unter 4 liegt, wird häufig gar nicht erst probiert. Wer in einem solch engen Bewertungsfenster Biere, die eigentlich großartig sind, mit 3,75 versieht, nimmt ihnen faktisch Marktwert und Sichtbarkeit.
Warum machen Menschen das?
Hier lohnt ein Blick in die psychologischen und soziokulturellen Mechanismen des Bewertungsverhaltens. Denn selten ist es böse Absicht – meist ist es ein Mix aus Gewohnheit, Gruppendruck und fehlender Reflexion.
1. Die Angst vor dem absoluten Urteil (und der heiligen Fünf)
Psychologisch bekannt als Ambiguitätsvermeidung – Menschen scheuen sich, extreme Bewertungen abzugeben, besonders am oberen Ende. Eine Studie der Universität Stanford (Hsee & Rottenstreich, 2004) zeigt, dass wir dazu tendieren, Bewertungsreserven zu behalten – für den Fall, dass noch etwas Besseres kommt. So wird die 5-Sterne-Bewertung zur Utopie. Sie existiert nur in der Theorie. Der Gedanke: "Wenn ich jetzt 5 Sterne gebe, habe ich keinen Spielraum mehr." Aber was ist ein Bewertungssystem wert, wenn niemand die volle Punktzahl vergibt?
2. Snobismus & Selbstinszenierung
Kultursoziologe Pierre Bourdieu beschrieb in seinem Werk „Die feinen Unterschiede“ (1979), wie Geschmack nicht nur Ausdruck von Vorlieben, sondern auch von sozialer Distinktion ist.Wer auf Untappd streng bewertet, signalisiert: „Ich habe Standards.“ Wer „nur“ 3,5 vergibt, zeigt sich als anspruchsvoll, abgeklärt, ein Kenner. Die 5 gibt man als Neuling. Die 3,75 ist die Währung der Coolness. Es geht weniger ums Bier – als um die eigene Position im Mikrokosmos der Craftbier-Szene.
3. Fehlende Stilkenntnis
Viele Nutzer*innen bewerten nicht nach dem, was ein Bier sein will, sondern nach dem, was sie persönlich mögen.
Ein knackiges Pils mit 38 IBU? „Bitter, nicht mein Ding – 3,25.“
Ein klassisches Berliner Weisse ohne Sirup oder Frucht? „Sauer und flach – 3,0.“
Ein Weißbier mit feinem Nelkenaroma? „Schmeckt wie Hefe – 3,5.“
Man bewertet nicht das Handwerk – sondern die eigene Erwartung. Stiltreue, technische Sauberkeit, Aromatiefe? Wird oft ignoriert.
Es geht auch anders: Bewerten mit Verstand (und System)
Wir brauchen keine 50-Punkte-Protokolle auf Untappd. Aber ein wenig Systematik würde helfen. Zum Beispiel nach dem BJCP-Schema (Beer Judge Certification Program), das weltweit zur professionellen Bierbewertung genutzt wird. Es hilft, Biere innerhalb ihrer Stilgrenzen fair zu beurteilen.
Hier ein einfaches Modell, das du adaptieren kannst:
Aussehen (0–1 Stern) Farbe, Klarheit, Schaum, Stiltypik
Aroma (0–1 Stern) Malz, Hopfen, Gärnebenprodukte, Fehlerfreiheit
Geschmack (0–2 Sterne) Balance, Tiefe, Nachtrunk, Stiltreue
Mundgefühl (0–0,5 Sterne) Körper, Karbonisierung, Textur
Gesamteindruck (0–0,5 Sterne) Trinkfreude, Harmonie, Wiederkaufpotenzial
Fazit: Mehr Mut zur Ehrlichkeit – in beide Richtungen
Wenn ein Bier gut ist, dann darf – nein, muss – das auch sichtbar werden. Die 4,0 ist keine göttliche Gnade. Sie ist das, was ein gutes Bier verdient, das seinen Stil trifft, keine Fehler zeigt, und einfach Spaß macht.
Und ja – auch die 5 ist okay. Du darfst sie vergeben. Du wirst sie nicht „verbrauchen“.
Umgekehrt gilt aber auch: Wenn ein Bier fehlerhaft ist, dann sag es. Keine Gnade für oxidierte IPAs, gushing Stouts oder schweflige Lager. Eine faire Skala lebt von Ehrlichkeit – nicht von Coolness.
In diesem Sinne: Mehr Fairness, mehr Freude und weiterhin: Lecker Bier entdecken.
Denn das beste Bier der Welt kann nichts retten, wenn es in einem Meer aus 3,75 untergeht.




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