Warum bleiben manche Biere so lange in Erinnerung (ein Essay)
- Holger Dülberg
- 27. Jan.
- 6 Min. Lesezeit
Warum werden manche Biere zu namenlosen Feierabendbieren degradiert, während sich andere lebhaft ins Gedächtnis einbrennen? Warum ist dieses Erlebnis für jeden anders? Stimmt etwas nicht mit unseren Gehirnen? Begeben wir uns auf die Suche und finden wir heraus, wie der Geschmack uns prägt und was er mit unserem Denkapparat macht. Wir nähern uns über den Geschmack. Dann versuchen wir herauszufinden, ob auch die Qualität dafür sorgen kann, dass uns ein Bier im Gedächtnis bleibt und schließen mit der Reizverarbeitung im Gehirn.
Über Geschmack
Beginnen wir mit dem Begriff selbst: Geschmack. Was ist das eigentlich? Etwa 80 Prozent des Geschmacks werden über den Geruchssinn wahrgenommen. Die Nase spielt also eine nicht zu unterschätzende Rolle beim Schmecken.
Noch bevor das Bier die Lippen berührt, nehmen wir die flüchtigen Aromastoffe wahr, die aus dem Glas aufsteigen. Hopfenaromen wie Zitrus, Pinie oder Kräuter sowie malzige Noten von Karamell, Brot oder Schokolade können eine Erwartungshaltung erzeugen, die den Geschmackssinn vorbereitet.
Die Nase arbeitet dabei auf zwei Arten:
Orthonasale Wahrnehmung erfolgt durch das direkte Riechen an der Bieroberfläche.
Retronasale Wahrnehmung tritt ein, wenn wir Bier im Mund haben und Aromen durch den Rachenraum in die Nasenhöhle gelangen.
Der Geruchssinn ist höchst komplex und in seiner Gesamtheit noch nicht vollends entschlüsselt. Was die Wissenschaft aber sagen kann, ist Folgendes: Riechzellen funktionieren in etwa wie Sensoren, die bestimmte Duftstoffe entschlüsseln können. Vergleichen können wir das mit dem Alphabet. Die Buchstaben sind limitiert, die Wörter, die wir aus ihnen bilden können, sind allerdings mehr als zahlreich.
Mit dem Geruch ist es ähnlich: Das Aroma eines Bieres wird erzeugt durch eine Kombination von verschiedenen Geruchsmolekülen, die das Gehirn zu einem Gesamteindruck zusammensetzt.
Ca. 80 % des Geschmacks sind auf den Geruchssinn zurückzuführen - Charles Spence, 2014
Der Geschmackssinn: Mehr als süß und bitter
Während Hunde selbst Krankheiten oder Geldscheine riechen können, ist unser Geschmackssinn relativ bescheiden entwickelt. Unsere Geschmacksknospen nehmen nur fünf Grundgeschmacksrichtungen wahr: süß, sauer, salzig, bitter und umami. Das ist vergleichsweise wenig. Beim Bier sind vor allem süße Malznoten, die Bitterkeit oder Fruchtigkeit des Hopfens und gelegentlich Säure dominant.
Süß: wird ausgelöst durch Zucker, Zuckerersatzstoffe, Peptide, Aminosäuren oder ganz einfach: der Restsüße im Bier.
Sauer: Wird ausgelöst durch saure Lösungen oder organische Säuren.
Bitter: wird ausgelöst durch die im Hopfen oder anderen Zusätzen enthaltenen Bitterstoffe.
Salzig: wird ausgelöst durch Mineralsalze.
Umami (japanisch für wohlschmeckend): wird ausgelöst durch Asparagin- oder Glutaminsäure. (Brücklmeier, 2021)
Wie wenig man ohne Nase schmeckt, kann man im Selbstversuch herausfinden. Halte dir einfach die Nase zu und trinke einen Schluck “egal was”, den du dann im Mund behältst. Versuche mit zugehaltener Nase herauszufinden, wonach das Getränk schmeckt. Kleiner Spoiler: es ist nicht viel.
Aber der Geschmackssinn allein reicht nicht aus, um die aromatische Vielfalt von Bier zu erfassen. Was wir „Geschmack“ nennen, ist ein Zusammenspiel von Geschmack, Geruch und trigeminalen Reizen, also Empfindungen, die durch Temperatur, Kohlensäure oder Schärfe ausgelöst werden.
Das Mundgefühl
Das Mundgefühl ist ein oft unterschätzter Aspekt des Biergenusses. Wie schwer oder leicht das Bier auf der Zunge liegt, wie die Kohlensäure prickelt, ob es cremig oder spritzig ist, all das beeinflusst unseren Gesamteindruck. Ein samtiges Stout fühlt sich ganz anders an als ein spritziges Pils. Fragt man Biertrinker, warum ein Bier in Erinnerung bleibt, wird oft auch ein bestimmtes Mundgefühl genannt: Ein Prickeln, das an Champagner erinnert, oder eine Cremigkeit, die, weil man sie so nicht kennt, zunächst irritiert und sich dann positiv auf den Gesamteindruck auswirkt.
Faktor Qualität
Über Geschmack lässt sich ja bekanntlich am besten streiten. Aber auch über Qualität? Bei Bier fällt es schwer, Geschmack von Qualität zu trennen. Wir könnten es uns einfach machen und sagen: Qualität lässt sich anhand von bestimmten Kriterien messen. Zum Beispiel durch Kriterien, die einen Bierstil definieren. Davon gibt es jede Menge. Die BJCP Style Guidelines definieren Farbe, Geruch, Geschmack, Schaum, Rezenz und den Alkoholgehalt eines Bierstils.
Spielen wir das mal durch: Laut BJCP sollte ein dunkles tschechisches Lager möglichst diesen Eindruck vermitteln: reichhaltig, dunkel, malzig, mit Röstcharakter, der von fast nicht vorhanden bis ziemlich ausgeprägt variieren kann. Im besten Fall hat dieses Lager eine malzige “Ausgewogenheit und ein interessantes und komplexes Geschmacksprofil mit unterschiedlichem Hopfenanteil, der eine Reihe möglicher Interpretationen ermöglicht.”
Mit dieser Beschreibung sollte doch die Qualität des Bierstils eindeutig messbar sein - oder etwa nicht? Messbar ist im besten Fall die Restsüße und die Farbe, aber bei dieser Range an uneindeutigen Charakteristiken (“Nicht vorhanden bis ziemlich ausgeprägt”, “unterschiedlicher Hopfenanteil, der eine Reihe möglicher Interpretationen ermöglicht”) wird es wahrlich schwer herauszufinden, warum manche Biere so stark im Gedächtnis bleiben.
Liebe Bierpuristen, bitte versteht mich nicht falsch. Diese Richtlinien sind wichtig, z.B. um gute Genrevertreter zu bestimmen oder als Bewertungsgrundlage bei Wettbewerben, aber sie sind nicht wirklich hilfreich, um unsere Ausgangsfrage zu beantworten: Warum bleiben manche Biere in Erinnerung?
Faktor kultureller und sozialer Kontext
Etwas, das garantiert im Gedächtnis bleibt, ist Surströmming. In Schweden ist dieser vergorene Fisch eine Delikatesse. Hierzulande hört man allerorten Brechgeräusche, wenn wir eine Dose Surströmming öffnen. Lässt sich bei Surströmming das Qualitätskriterium zu Rate ziehen? Oder funktioniert es bei diesem uns unbekannten Lebensmittel nicht, weil uns es hier schlicht und einfach der kulturelle Kontext fehlt?
Beim Bier ist es ähnlich. Auch beim Gerstensaft gibt es einen kulturellen und sozialen Kontext. Seit meiner Jugend im Osten bin ich geprägt von böhmischem Pilsener oder Schwarzbier. Wenn ich nur daran denke, wie ich jedes Wochenende heimlich ein paar halbe Liter aus dem heimischen Bierkasten entwendet habe... Dieser feinwürzige Geschmack, die Hopfenbittere, die sich im Mund breit macht... Und schon bin ich wieder 17 und damit way back in time.
Ich habe erst im Studium verstanden, dass Helles ein Bierstil ist. Bis vor ein paar Jahren war mir nicht klar, wie man etwas mit so wenig Geschmack trinken kann. Ich übertreibe hier etwas, aber ähnlich wird es einem Franken gehen, der anders sozialisiert nach Belgien kommt und ein Sauerbier probiert, welches im ersten Moment nach Essig schmeckt.
Es braucht Offenheit, Gewöhnung und ein Verständnis der Gepflogenheiten vor Ort, um Bierstile zu verstehen und vielleicht sogar für sich zu entdecken. Es muss ja nicht per se alles schmecken, nur weil es Bier ist, aber eine gewisse Offenheit sollte man sich schon bewahren.
Wie das Gehirn Sinneseindrücke verarbeitet
Zeit, das alles zusammenzuführen. Alle Sinneseindrücke, wie Geruch, Geschmack, Mundgefühl und andere Wahrnehmungen, laufen im Gehirn zusammen, wo sie zu einem Gesamteindruck geformt werden.
Das limbische System, das für Emotionen und Erinnerungen verantwortlich ist, spielt dabei eine zentrale Rolle. Gerüche und Geschmäcker werden direkt mit Emotionen und früheren Erfahrungen verknüpft. Diese Verbindung erklärt, warum ein Bier uns plötzlich an einen Urlaub oder einen besonderen Moment erinnern kann.
Das Gehirn ist auch in der Lage, „Erwartungen“ zu generieren. Wenn wir zum Beispiel an einem Bier riechen, bildet das Gehirn Hypothesen darüber, wie es schmecken wird. Stimmen Geruch und Geschmack überein, empfinden wir das Bier oft als „rund“ oder „harmonisch“. Entstehen Widersprüche, kann das jedoch auch für Spannung und Neugier sorgen.
Warum bleiben Bieraromen so lange in Erinnerung?
Gerüche und Geschmäcker sind extrem stark mit unserem Gedächtnis verknüpft. Das liegt daran, dass der Geruchssinn eine direkte Verbindung zum Hippocampus hat, dem Teil des Gehirns, der für die Speicherung von Erinnerungen verantwortlich ist. Ein bestimmter Bierduft kann daher Jahre später eine klare Erinnerung hervorrufen – sei es an eine gesellige Runde mit Freunden, die geklauten böhmischen Pilsener aus der Jugend oder den lauen Sommerabend vor ein paar Jahren.
Eine Studie von Herz (2004) zeigt, dass Gerüche deutlich stärkere emotionale Erinnerungen oder Reaktionen hervorrufen können als andere Sinneseindrücke. Emotional heißt dabei auch, dass die Erinnerung nicht unbedingt positiv ausfallen kann.
Nehmen wir uns mal ein fränkisches Rauchbier heraus. Für die einen ist es der Surströmming der Bierwelt - eine Delikatesse, die es viel zu selten außerhalb von Bamberg gibt. Und für die anderen eine Irritation, die sich nicht verarbeiten lässt. Der Geruch nach geräuchertem Schinken löst eine kognitive Dissonanz aus. Wie kann das sein, dass ein Getränk so einen krassen Eigengeschmack hat?
Darüber hinaus können intensive Aromen, wie die von stark gehopften IPAs oder rauchigen Bieren, emotionale Reaktionen hervorrufen, die sich tief ins Gedächtnis eingraben.
Fazit: I’ll beer back
Der Genuss von Bier ist ein beeindruckendes Zusammenspiel von Sinneswahrnehmungen, Emotionen und Erinnerungen. Es zeigt, wie eng unsere Sinne miteinander verknüpft sind und welche Macht der Geschmackssinn über unsere Wahrnehmung und unser Gedächtnis hat. Beim nächsten Schluck Bier lohnt es sich, innezuhalten und die Vielfalt der Eindrücke bewusst wahrzunehmen – ein Erlebnis, das nicht nur den Gaumen, sondern auch unseren Hippocampus bereichert.
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